Unter einem Karateka mag man sich einen athletischen Draufgänger vorstellen, der schreiend durch die Luft wirbelt und Fusskicks und Faustschläge verteilt. Doch nicht alle sind so. Doris Schütz ist 58, arbeitet bei Brüggli und macht Karate

Stabil wie ein Baum steht sie im geräumigen Sitzungszimmer, die Füsse schulterbreit auseinander und die Hände in Abwehrhaltung vor dem Körper. Sie versucht sich an alle Bewegungen ihres Karate-Unterrichts zu erinnern. Von Zeit zu Zeit muss sie nachdenken und korrigiert sich. «Im Dojo kommt das automatisch», sagt Doris Schütz. «Dort wissen die Muskeln einfach, was sie machen müssen.» Es ist nicht einfach, Karate vorzuführen, gleichzeitig zu erklären, was die japanischen Ausdrücke dazu bedeuten, und die Körperregionen herauszustreichen, die durch die jeweilige Bewegung verteidigt werden. Denn darum geht es im Karate — um Selbstverteidigung. Im Karate gibt es keinen ersten Angriff. Und das möchte sie auch nicht. Nachdem ihr das viele Rennen im Badminton zu anstrengend wurde, suchte Doris Schütz einen Sport, in dem sie sich auspowern, sich bewegen und ihre Kondition trainieren kann. Ihr Gottebueb machte sie auf Karate aufmerksam. Das war vor drei Jahren. Heute trägt sie stolz den grünen Gurt.

«Sie hat viel Selbstvertrauen und setzt sich für sich und andere ein.»

Fusstritte im Wohnzimmer

Ihre Begeisterung für Karate bringt Doris Schütz dazu, im Sitzungszimmer die Grundschritte vorzuführen. Immer wieder bewegt sie sich kontrolliert explosiv quer durch den Raum und wehrt dabei imaginäre Schläge ab. Sie vermisst das Training im Dojo. Das merkt man ihr an. Ihr Dojo wurde wegen Corona vorübergehend geschlossen. Nur die Kinder- und Leistungsgruppen dürfen noch trainieren. Die Senioren nehmen an Trainings per Videotelefonie teil. So bleibt Doris Schütz trotz Corona regelmässig in Bewegung. Meist trainiert sie bei sich zuhause. Manchmal reicht der Platz im Wohnzimmer aber nicht. Dann hilft sie sich anderweitig. Im Sommer ging sie deshalb extra in die Badi, um an der frischen Luft in einer ruhigen Ecke ihre Karate-Übungen auszuführen.

Doris Schütz macht es vor: Karate kann man auch im reiferen Alter praktizieren.

Sie steht nicht gerne im Mittelpunkt. Die Gruppe ist ihr wichtig. Im Karate-Training unterstützt man sich gegenseitig. Man analysiert die Bewegungen der anderen und tauscht Tipps aus. Ursprünglich suchte Doris Schütz nur einen Ort, um sich zu bewegen und auszupowern. Doch dann erfuhr sie mehr über die Kampfkunst und deren reiche Geschichte. Sie ist stolz, ein Teil dieser Geschichte zu sein. Das motiviert sie auch, immer besser zu werden. Ihr Sensei Reto Kern hält grosse Stücke auf sie. «Doris ist sehr engagiert und wissbegierig. Sie interessiert sich für die Hintergründe des Karates und möchte stets wissen, weshalb die Bewegungen genau so ausgeführt werden.» Anfang 2020 hat sie die Prüfung zum grünen Gürtel abgeschlossen. Den nächsten hat sie bereits ins Auge gefasst. «Den blauen will ich noch machen, danach werde ich weiterschauen», sagt sie. Ihr Tonfall lässt erahnen, dass sie nach dem blauen den nächsten anpeilen wird, den violetten.

Struktur in Bewegung und Gedanken

Nachdem Doris Schütz im grossen Sitzungszimmer die letzten Grundbewegungen zeigt, demonstriert sie die Verabschiedung. Jede Trainingseinheit wird mit einer kurzen Meditation begonnen und beendet, ganz egal ob im Dojo oder im Sitzungszimmer bei Brüggli. Hier arbeitet Doris Schütz seit zwölf Jahren, die letzten drei Jahre im Co-Packing, wo sie sowohl Sendungen abpackt, als auch Anweisungen auf dem Computer verfasst. Wie im Karatetraining schätzt sie bei Brüggli den Kontakt zu anderen Menschen sehr. «Das Arbeitsklima und der Gruppenzusammenhalt sind sehr gut», sagt sie. So verschieden das Co-Packing und Karate sind, so haben sie doch einige Gemeinsamkeiten. Das Training im Dojo hilft ihr bei der Arbeit. «Sie hat sehr viel Selbstvertrauen und setzt sich ein für sich selbst und für andere», sagt Kenny Frei, Abteilungsleiter Co-Packing bei Brüggli Medien. Am Arbeitsplatz wie auch im Dojo wird Doris Schütz körperlich und geistig gefordert. Beide Tätigkeiten basieren auf fixen Strukturen und Bewegungsabläufen. Das weiss sie zu schätzen. Denn das Karate und die Arbeit bei Brüggli geben ihr Struktur und eine Herausforderung.

Das Karate-Training und die Arbeit bei Brüggli fordern sie körperlich und geistig.

Doris Schütz hat eine Sportart gefunden, die nicht nur ihr Selbstvertrauen, sondern auch ihre Konzentration, ihre Kraft, ihre Ausdauer und ihre Disziplin fördert. Sie freut sich darauf, wenn sie endlich wieder in ihr Dojo kann. Bis dahin trainiert sie halt weiterhin im Wohnzimmer und in der Badi. Und für den Austausch in der Gruppe hat sie ihre Arbeit bei Brüggli.

Adrian Dossenbach

Auch für Senioren

Die grössten Karatemeister sind die Ältesten. Karate ist nicht bloss ein Kampfsport für die Jungen, sofern nicht der Gewinn der Meisterschaft das Ziel ist. Gerade im fortgeschrittenen Alter ist Karate eine geeignete Sportart, um körperlich und mental fit zu bleiben. «Das körperliche Training verlangsamt den Alterungsprozess, gibt Sicherheit und trainiert Kraft, Ausdauer, Gleichgewicht und Koordination — ohne dass man dabei viel rennen muss. Ausserdem werden die Aufmerksamkeit, die Aufnahmefähigkeit und die Beweglichkeit gefördert», sagt Reto Kern, Leiter des Karatecenters Reto Kern in Kreuzlingen, dem Doris Schütz angehört. Der fixe Ablauf kontrollierter Bewegungen baut zusätzlich die Konzentrationsfähigkeit und die Disziplin auf. Neben körperlichen und mentalen Vorteilen bietet das Training in Karate-Dojos oft auch soziale Anknüpfungspunkte. Viele Dojos pflegen ein familiäres Vereinsleben und organisieren gesellschaftliche Anlässe. Ein Beitritt zu einem Karate-Dojo kann also die Lebensqualität vor allem auch von älteren Menschen erheblich steigern.

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