Im Sommer vor fünf Jahren nahm Samuel Kunz’ Leben eine radikale Wende. Ein Badeunfall machte den Maschineningenieur-Studenten zum Tetraplegiker. Mit Brügglis Hilfe fand er ein Praktikum im ersten Arbeitsmarkt.

Samuel ist seit dem Unfall von der Brust an abwärts gelähmt; den rechten Arm kann er leicht bewegen. Für den damals 28-Jährigen stand schnell fest, dass er trotz der neuen Lebensumstände einer beruflichen Tätigkeit nachgehen will. Also nahm er das Studium zum Maschineningenieur nach der Reha wieder auf, unterstützt von Professoren und Mitstudierenden. «Ich hatte sogar die besseren Noten als vorher», sagt er. Nach dem Abschluss ging es für ihn darum, einen Arbeitgeber zu finden – kein einfaches Unterfangen.


Bei weitem nicht jeder Arbeitsplatz ist rollstuhlgängig und mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Auf Anfrage der IV hat Brügglis Arbeitsassistenz Samuel bei der Stellensuche unterstützt. «Bei vielen Unternehmen scheitert es an den Anforderungen, welche die Infrastruktur betreffen», sagt Jobcoach Simon Vollenweider. Er hat Samuel begleitet, mit ihm Wünsche besprochen, das Bewerbungsdossier optimiert und sich mit möglichen Arbeitgebern in Verbindung gesetzt. «Simon hat mir geholfen, meine Stärken sichtbar zu machen und aufzuzeigen, was ein Unternehmen davon hat, wenn es mich einstellt», sagt Samuel.

«Ich war schnell ins Team integriert. Die Anlaufphase war kürzer als gedacht.»

Michael Werner, Head of Analytics bei der Rieter AG in Winterthur, haben Samuels fachliche Fähigkeiten sofort überzeugt und er hat für ein Praktikum zugesagt – trotz einiger Bedenken. «Die Infrastruktur war ein grosses Thema: Sind die Zugangswege immer frei? Wie sieht es mit den Fluchtwegen aus? Welche Hilfsmittel müssen beschafft werden?» Es stellte sich auch die Frage, in welchem Rahmen Samuel Aufgaben übernehmen kann: «Im Labor wird sehr viel von Hand gemacht. Geht das überhaupt?» Michael sieht vor allem Recherchearbeiten und Normentätigkeiten vor; für alle Fälle wird eine zusätzliche Arbeitsoption in einer anderen Abteilung bereitgehalten.


Und dann kam es anders: zur grossen Überraschung von Michael. Und auch Samuel staunte über seine Handlungsfähigkeit. Auch er hatte sich im Vorfeld Sorgen gemacht, man würde ihn nur für Tätigkeiten wie Recherchen und das Berichtswesen einsetzen können. Sein Rollstuhl ist via Bluetooth mit jedem Computer koppelbar. Mit der rechten Hand lenkt er vom Rollstuhl aus die Maus; Klicks führt er via Kopfbewegungen am Kopfteil aus. Und so kann er auch die Geräte im Labor bedienen: «Wenn mir jemand den PC einschaltet und das Teilchen unter das Rastermikroskop oder den Oberflächentaster legt, kann ich selbständig arbeiten», sagt Samuel.

«Ich bin positiv überrascht, wie handlungsfähig ich trotz Einschränkungen bin.»

Er strebt nach einer möglichst grossen Unabhängigkeit und ist deshalb stolz, eigene Projekte durchführen zu können. «Morgens und abends bin ich auf die Spitex angewiesen. Dazwischen möchte ich den Tag selber bewältigen und nur dort Hilfe annehmen, wo es unbedingt nötig ist.» Kaffeeholen ist so eine Sache. Und trinken. Das Team hilft gerne; Samuel ist gut integriert. «Er hat es uns einfach gemacht», sagt sein Chef. Samuel hat Verständnis, wenn Menschen im ersten Moment unsicher reagieren. «Ich versuche dann, das Eis zu brechen, damit man merkt, dass man normal mit mir reden und umgehen kann.»


Bevor Samuel zum Tetraplegiker wurde, war er sehr aktiv und sportlich, oft auf Reisen. «Der Unfall war einschneidend: von hundert auf null». Einschränkungen, häufige Schmerzen und die Abhängigkeit von anderen bestimmen seither sein Leben. Auch wenn eine gewisse Gewöhnung einsetzt, nagt die Situation an ihm. «Ich wünsche mir wieder etwas mehr Lebensfreude. Besonders im Winter habe ich Mühe.» Regen, Schnee und Kälte tragen nicht gerade zu einer Verbesserung der Situation bei. Früher sei er ein Spassvogel gewesen, habe in den Tag hineingelebt. Die Leichtigkeit von damals ist einer spürbaren Ernsthaftigkeit gewichen. «Ich hinterfrage häufiger und suche nach Sinn.» Familie und Freude helfen ihm, die schwere Situation zu tragen. Auch im Glauben findet Samuel Kraft, um weiterzumachen. Er will etwas zurückgeben und lässt sich deshalb zum Seelsorger ausbilden. Ein Wochenende pro Monat ist für die Kurse reserviert. Insgesamt dauert die Ausbildung drei Jahre.

«Familie und Freunde haben mir viel Kraft gegeben.»

Samuel ist keiner, der sich in den Vordergrund drängt, aber sich verkriechen ist auch keine Option. Kinobesuche, Ausgang mit Freunden – mit Flexibilität und einer guten Vorbereitung geht das nach wie vor. «Ich muss vorher einfach abklären, ob es auf dem Weg unüberwindbare Hindernisse gibt.» An Wochenenden sieht man Samuel auch am Spielfeldrand von Handballmatches. Er hat vorher selber trainiert; nun gibt er als Trainer die Taktik vor, wechselt Spieler ein, motiviert sein Team. «Nur ins Spielfeld hineinbrüllen geht nicht. Dazu fehlen mir die Bauchmuskeln.»


Was wünscht sich Samuel für die Zukunft? Er würde irgendwann gerne eine Familie gründen. Möglich sei das nach wie vor. Beruflich hofft er, auch beim nächsten Arbeitgeber wieder eine interessante Beschäftigung zu finden. Bei der Rieter AG war eine weiterführende Tätigkeit leider nicht möglich, da die Abteilung, in der er war, geschlossen wurde. Bestärkt durch die positiven Erfahrungen – das Praktikum hat ihm gezeigt, wie handlungsfähig er trotz der Einschränkungen ist –, geht Samuel auf Stellensuche. Wir drücken ihm die Daumen.

Sarina Neuhauser

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