Richard Schmid hat Schlimmes erlebt in Kinder- und Jugendheimen. Die Schatten der Vergangenheit sind nicht fort, aber das Gute hat Platz gefunden in seinem Leben.

Das Wichtigste zuerst: «Heute geht es mir gut», sagt Richard Schmid. Der 59-Jährige arbeitet im Papierlager von Brüggli Medien und sorgt dafür, dass das richtige Papier zur richtigen Zeit an der rechten Druckmaschine ist. Den Lastwagen ausladen, die Paletten anschreiben, das Lager bewirtschaften: «Ich mag die Bewegung und die Abwechslung», sagt er, «und bin froh, dass ich selbständig arbeiten darf.»

Richard Schmid ist eines von unzähligen Verding- und Heimkindern.

Weggegeben und ausgebeutet

Die Kindheit von Richard Schmid führt zu einem traurigen und unbequemen Kapitel in der Schweizer Geschichte: Von 1800 bis in die 1960er-Jahre wurden Kinder zu Zehntausenden von überforderten Eltern weggegeben oder von Behörden dem Elternhaus entrissen. Vor allem Waisen und Scheidungskinder wurden weitergereicht als billige Arbeitskräfte ohne Rechte. Man liest von Verdingmärkten, auf denen die Mädchen und Buben feilgeboten wurden. Oft landeten sie auf Bauernhöfen, wo sie wie Leibeigene und Sklaven arbeiten mussten. Oft auch fristeten sie ein trauriges Dasein in Kinderheimen. Zeitzeugen und Opfer erzählen von seelischer und körperlicher Misshandlung und von sexuellem Missbrauch. Die Rolle der Ämter und Behörden ist dabei genauso fraglich wie die Rolle von Schulen, Kinderheimen und der Kirche: Sie haben zu einem Verbrechen beigetragen, für das sich die Schweizer Regierung 2013 entschuldigte. Justizministerin Simonetta Sommaruga sprach von einer Verletzung der Menschenwürde, die nicht mehr gutzumachen sei. 2016 kam vonseiten Politik die Zustimmung, den noch lebenden Opfern von Kinder- und Zwangsarbeit eine finanzielle Entschädigung zu leisten.

Er hat die Würde, die ihm als Kind genommen wurde, wiedererlangt.

Eine Anerkennung

Auch Richard Schmid hat eine solche Entschädigung erhalten. Am 16. Dezember 2021 bekam er die Nachricht: Sein Fall wird anerkannt. «Mir ist fast der Telefonhörer aus der Hand gefallen, und ich musste lange weinen», erinnert er sich an den Tag, der sein Leben verändern sollte. Die Entschädigung kann nicht gutmachen, was ihm die Nonnen in einem katholischen Kinderheim im Kanton Luzern angetan haben. Sie kann nicht die Demütigung wegwischen, die dem kleinen Jungen mit Essensentzug und Isolation im Kellerverlies beigebracht wurden. Und sie mag auch nicht die Schläge und verbalen Erniedrigungen vergessen machen, die ihm ein Schulleiter oder andere Kinder zugefügt haben. Und doch ist die Entschädigung sowas wie ein Abschluss und zugleich ein Urteil, das unterstreicht: Da lief verdammt viel schief.

Ein verstörendes Ganzes

Fingerdicke Akten und Protokolle damaliger Behörden vermitteln, wie der junge Richard durch die Heime geschleppt wurde, wie Schulen, Heilpädagogen, psychiatrische Einrichtungen und die IV ihn taxierten. Da ergibt sich ein Bild eines Buben mit Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten, der mal liebenswert-zurückgeblieben und mal übermütig-offensiv seinen Platz suchte. Die Gewalt und Demütigung, die er schildert, und die nüchternen Worte der Heimvertreter, Behörden und Ärzte in den Akten fügen sich zu einem verstörenden Ganzen, das von zwei unterschiedlichen Seiten verstanden werden will: einerseits im historischen Kontext und im Auge des damals unerbittlichen Systems, andererseits in der traurigen Realität eines Kindes, das diesem System zum Opfer fiel, sowie in der Gegenwart eines Seniors, der verzeihen, aber nicht vergessen kann.

Zwangsarbeit und Missbrauch: ein düsteres Kapitel in der Schweizer Geschichte.

Stolz auf die Kinder

Die Wunden sind tief. Und doch blüht das Leben. Richard Schmid hat zwei Kinder aus einer Ehe, die in die Brüche ging: Seine Tochter ist 30, sein Sohn 28. «Ich bin stolz, dass meine Kinder wissen, dass ich ihr Vater bin. Wir haben regelmässig Kontakt.» Es hätte anders kommen können, sagt er. Für jemanden mit seiner Geschichte und seiner Vorbelastung hätte das Leben auch Abwege bereithalten können.

Nach seiner Odyssee durch Kinder-, Jugend- und Erziehungsheime während etwas 12 Jahren machte Richard Schmid eine Anlehre zum Möbelschreiner. Aus dem Buben war ein junger Mann geworden, der sich besser wehren und besser für sich einstehen kann. Er arbeitete nach der Lehre in einer Möbelfabrik und später bei einem Fenster- und Türenbauer, 2009 holt ihn die Vergangenheit ein: Konzentrationsstörungen, Gedächtnisverlust, womöglich Folgen der Schläge und Erniedrigungen, machen ihn zum IV-Fall.

Ein loyaler Mitarbeiter

Trotz einer Dreiviertel-Berentung arbeitet er heute zu 100% bei Brüggli. Urs Niederhäuser, Leiter Agogik bei Brüggli Medien, erlebt ihn als zuverlässigen Mitarbeiter, der Freiheiten, aber auch einen Rahmen braucht und Vertrauen spüren will. «Er kann ein Schlitzohr sein», sagt Urs Niederhäuser, «wenn er seine Freiheiten in Gefahr sieht». So legte Richard Schmid zum Beispiel Wert darauf, sich zwischendurch eine Zigarette gönnen zu können. Für Teamleiter Stefan Britt, der eng mit ihm zusammenarbeitet, liegt das drin. «Er ist eine treue Seele. Er ist dankbar für die Freiheiten, die er hat, und er honoriert dies mit Loyalität und Einsatz.»

Richard Schmid ist wichtig, dass er Vertrauen spürt und Freiheiten hat.

Seine Stimme wird erhört

Es tue ihm gut, seine Geschichte zu teilen, sagt Richard Schmid. «Ich kann heute besser sprechen. Früher brachte ich kaum ein Wort heraus. Ich hatte Angst, dass ich etwas Falschen sage.» Sein Blick wandert den Flur entlang, hin zum Drucksaal, wo eine Maschine auf den Papiernachschub wartet. Der Mann im roten Flanellhemd zieht los mit dem Hubwagen und der schweren Last. Die Würde, die ihm in der Kindheit geraubt wurde: Er hat sie Stück um Stück zurückerlangt. Nicht alles ist bewältigt und nicht alles kann vergessen werden. Aber vieles ist ganz gut.

Michael Haller, Leiter Kommunikation & Kultur, Mitglied der Geschäftsleitung

Das Schicksal der Verdingkinder

Bis in das 20. Jahrhundert wurden Kinder in der Schweiz mit behördlichem Segen und öffentlichem Tolerieren zur Zwangsarbeit gezwungen, missbraucht und erniedrigt. Oft landeten sie auf Bauernhöfen und oft wurden sie durch Kinderheime geschleppt, wo es ihnen nicht besser erging. Nur selten, wenn überhaupt, wurden Misshandlungen von den Behörden verfolgt. Im Gegenteil: Die Ämter trugen dazu bei, indem sie arme Familien auflösten und über die Versorgen der Familienmitglieder verfügten.

Betroffene und deren Angehörige, Historiker und Stiftungen wie zum Beispiel die Guido-Fluri-Stiftung setzen sich für eine Aufarbeitung des traurigen Kapitels ein. Mit der Wiedergutmachungsinitiative kam eine Auseinandersetzung in Bewegung, die das Schicksal der Opfer beleuchtet und den noch Lebenden eine Entschädigung brachte. Seit Januar 2017 ist das «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» in Kraft.

Die genaue Anzahl der Verdingkinder ist unbekannt. Es dürften Hunderttausende sein. Schätzungen zufolge lebt in der Schweiz heute eine fünfstellige Zahl ehemaliger Verdingkinder — viele haben psychische und körperliche Probleme.

Was in der Schweiz stattgefunden hat, war auch in anderen Ländern üblich. Man kann von Bergbauernkindern aus Vorarlberg, Tirol, Südtirol lesen, von Kindern in Grossbritannien, Schweden oder Italien, zum Beispiel, denen dasselbe widerfahren ist.

Die Guido-Fluri-Stiftung betreibt in Mümliswil eine Gedenkstätte für Schweizer Heim- und Verdingkinder und andere Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

Quellen:
Guido-Fluri-Stiftung: https://www.guido-fluri-stiftung.ch/de/gewalt-an-kindern/
https://wiedergutmachungsinitiative.ch/home/

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