Mit Luigi Berini geht Brügglis letztes Gründungsmitglied in den Ruhestand. Seit 1986 hat sich vieles gewandelt, aber die zentralen Werte sind geblieben – und an diesen soll auch die Nachfolgegeneration festhalten.

Luigi, Du begleitest Brüggli seit seiner Geburt. Wie ist es, jetzt Abschied zu nehmen?
Luigi Berini: Als Mitglied der Geschäftsleitung sehe ich in die Tiefe, ich kann mitreden und mitentscheiden – auch jetzt gegen Ende noch. Ich werde aber nicht sehen, was aus den Diskussionen und Entscheidungen wird, wie es weitergeht. Bisher habe ich alles mitbekommen. Von nicht mal 15 Mitarbeitern auf 800 … und jetzt einfach gehen. Das ist schon schwierig. Aber es ist nicht nur das Hängen an Brüggli, es ist auch einfach der gewohnte Alltag, den ich dann nicht mehr habe. Brüggli ist für mich wie ein Kind und ein Kind loszulassen fällt schwer, vor allem mir als Italiener. Aber ich freue mich auch. Das Leben geht ja weiter, es gibt neue Projekte.


Welche?
Es steht noch nichts Konkretes fest, aber es gibt schon ein paar Dinge, die ich unbedingt machen will. Zum Beispiel Wanderungen oder Velotouren mit meiner Frau – unsere wunderschöne Gegend bewusst erleben. Und mit meinen Enkelkindern möchte ich mehr Kontakt haben. Ausserdem habe ich mir auch schon Boccia-Wettkampfkugeln gekauft und einen Langbogen. Und aufs Felchenfischen freue ich mich. Da kann man alles um sich herum vergessen, weil man äusserst konzentriert sein muss. Die Rute hat eine ganz weiche Spitze, da sieht man jede kleinste Bewegung – und dann muss man sofort reagieren, sonst verliert man den Fisch. Das Wichtigste ist aber eigentlich, dass ich weiterhin viele Kontakte habe. Was ich nicht kann, ist keine Menschen um mich herum zu haben. Ich geniesse zum Beispiel den Austausch am Stammtisch sehr, weil dort die verschiedensten Leute zusammenkommen. Beim Zuhören schnappt man viele interessante Dinge auf. Das ist Psychohygiene für mich. Deshalb sage ich auch allen: Hört dem Menschen zu, nehmt euch Zeit dafür. Ich glaube diese Fähigkeit ist etwas verloren gegangen.

«Loslassen fällt schwer. Aber ich freue mich auch auf neue Projekte.»

Warum habt ihr damals Brüggli gegründet?
Wir wollten etwas bewirken. Nach der KV-Ausbildung bin ich in die psychiatrische Pflege eingestiegen. Ich kam mir vor wie ein hilfloser Helfer. Die Leute kamen zu uns, gingen wieder und wenig später waren sie wieder da. Drehtür-Psychiatrie nenne ich das. Ich habe mir immer gesagt, es muss doch noch etwas Anderes geben. Jeder hat einmal den Moment, in dem er merkt, das ist jetzt das Ding, mit dem ich etwas bewirken kann – und den hatten wir 1986. Kurt Fischer (Anm. d. R.: ehem. CEO von Brüggli), Erich Heule (Anm. d. R.: ehem. Leiter Fachstelle Berufsbildung und Leiter Berufsschule PrA) und ich sassen nach einer Gemeindeversammlung zusammen und da kam genau diese Frage auf. Ist denn das alles, was wir für diese Menschen tun können? Kurt hat mich am nächsten Tag angerufen und gesagt, dass er die ganze Nacht nicht schlafen konnte, dass wir etwas tun müssten. Und das taten wir dann auch. Wir gründeten einen Verein und suchten nach Sponsoren. Das war nicht einfach. Von einer Bank bekamen wir Geld, mit dem wir einen Webstuhl kauften. Der Sozialbereich ist stark umkämpft und wir wollten nicht konkurrieren. Es lag also auf der Hand, dass wir nicht mit Holz arbeiten wollten, denn das taten damals viele.


Wie habt ihr euch von anderen unterschieden?
Wir haben von Anfang an auf Eigenprodukte gesetzt. Mit Leggero haben wir das auch geschafft. Dafür war aber die ISO-9001-Zertifizierung nötig. Das schlug damals ein wie eine Bombe: «Brüggli hebt ab. Die spinnen!» Heute sind alle ISO-zertifiziert. Da waren wir der Zeit voraus. Auch mit unserem Anspruch, eine Balance zwischen agogischer und wirtschaftlicher Tätigkeit zu finden. Wir wollten immer, dass es ausgeglichen ist, das weder das eine, noch das andere überwiegt. Bisher hat das Agogische immer etwas überwogen. Ich glaube aber, dass der Zeitpunkt für den Ausgleich jetzt gekommen ist.

«Ohne Wirtschaftlichkeit kann man nicht sozial sein.»

Wegen des Spardrucks im agogischen Bereich?
Ja, Sozialunternehmen geraten zunehmend unter politischen Spardruck. Wir müssen das mit der Wirtschaftlichkeit ausgleichen. Aber wir müssen auch verhandeln, denn vieles wird momentan pauschalisiert: Es gibt die Meinung, dass alle das gleiche Angebot haben. Dem ist natürlich nicht so. Da liegt es an uns, aufzuzeigen, wie wir uns unterscheiden. Denn die Gefahr ist, dass durch Pauschalbetrachtungen an falschen Orten gespart wird und Klienten mit hohem Unterstützungsbedarf auf der Strecke bleiben.


Muss man sich nicht auch anpassen können?
Natürlich. Man kann nicht einfach stur sein Ding durchziehen. Brüggli ist ein Abbild der Gesellschaft, deshalb passt es sich automatisch an. Zum Beispiel, wenn ein Beruf nicht mehr nachgefragt wird. Darauf müssen wir flexibel reagieren und unser Ausbildungsangebot anpassen. Wir müssen immer überlegen: Sind wir auf dem richtigen Weg?

Ist das Wachstum von Brüggli Medien der richtige Weg?
Ohne Wirtschaftlichkeit kann man nicht sozial sein. Wir können Ausbildungen anbieten, die andere nicht haben. Deshalb habe ich den Wunsch nach Wachstum auf Seite Brüggli Medien befürwortet. Die Druck-Branche befindet sich in einer schwierigen Zeit. Wenn wir keinen Schub gegeben hätten, hätte unsere Druckerei vielleicht schliessen müssen. Das hätte auch einen Einschnitt in die agogische Tätigkeit bedeutet. Brüggli kann ohne Druckmaschinen keine Medientechnologen, Polygrafen und Printmedienpraktiker ausbilden. Wir wollen weiterhin ein vielfältiges Ausbildungsangebot haben. Das geht auch einher mit dem Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention. Alle sollen die gleichen Möglichkeiten haben – auch Menschen mit körperlichen oder psychischen Schwierigkeiten. Auch sie sollen Grafiker oder Mediamatiker werden können, wenn sie das wollen.

«Ob du Teamleiter oder Klient bist, spielt im Umgang keine Rolle.»

Tarifverhandlungen, mehr Wirtschaftlichkeit – das klingt nach grossen Herausforderungen. Ist Brüggli fit für die Zukunft?
Brüggli ist fit, aber es wird anders. Ich glaube, dass Brüggli personell nicht mehr gross wachsen wird. Ich sehe da wie gesagt eher einen Ausgleich in Richtung Wirtschaft. Angst haben muss man davor aber nicht. Brüggli geht seinen Weg. Mit Anita Pintarelli habe ich zum Beispiel eine wunderbare Nachfolge für die Leitung der Agogik. Sie wird Brüggli auf dem Weg in die Zukunft gut begleiten. Und auch Anita wird später dafür sorgen, dass nach ihr jemand kommt, dem die Arbeit bei Brüggli genau so fest am Herzen liegt.


Brüggli braucht aber nicht nur in der Agogik gutes Personal.
Nein, Brüggli braucht selbstverständlich in allen Bereichen gute Leute. Jeder arbeitet hier in einem gewissen Sinne agogisch, auch Leute ohne agogische Ausbildung und auch solche, die hauptsächlich im wirtschaftlichen Bereich tätig sind. Wir bewegen uns dadurch alle in einem Spannungsfeld. Die Auseinandersetzung damit ist spannend, aber sie ist auch eine Herausforderung. Manche würden es vielleicht als Doppelbelastung bezeichnen, ich sehe es als eine Doppelaufgabe. Dieser muss man sich bewusst sein und man muss sich darauf einlassen können.

«Man spürt ihn schon beim Betreten des Gebäudes: den Brüggli-Groove.»

Hast Du Tipps für die Nachfolgegeneration?
Ja, der Wichtigste: Vergesst die soziale Mission nicht. Es ist die Liebe zum Menschen, die Brüggli weiterbringt. Seht das Einzigartige in ihm. Bringt ihm Wertschätzung entgegen und begegnet ihm auf Augenhöhe – egal, um wen es sich handelt. Ob Du Teamleiter oder Klient bist, spielt im Umgang miteinander keine Rolle. Und das ist ja das Schöne bei Brüggli: Die Werte werden gelebt. Das spürt man schon beim Betreten des Gebäudes. Schon viele Leute haben mir gesagt: Da ist etwas. Ich nenne es den Brüggli-Groove. Man kann ihn nicht mit Worten beschreiben, aber er ist da und wir spüren ihn. Ich habe immer dafür gekämpft, dass er bestehen bleibt. Wenn das auch die Nachfolgegeneration tut, dann kommt’s gut. Damit Brüggli auch in Zukunft fit ist, darf aber auch der Austausch mit anderen Anspruchsgruppen nicht vergessen werden. Wir müssen weiterhin an Tagungen gehen, uns weiterbilden. Und wir müssen Kontakte und Partnerschaften pflegen.

«Man darf den Menschen nicht aufgeben.»

Was waren Deine schönsten Momente?
Ich hatte das Privileg, 47 Jahre lang mit den unterschiedlichsten Menschen zusammen zu arbeiten, 32 Jahre davon bei Brüggli. Dafür bin ich dankbar. Mein Ziel war immer, die Entwicklung der Menschen zu fördern. So waren es auch die Erfolge, die mich ganz besonders berührten. Wenn Du zum Beispiel einen Lernenden begleitest, ihn eigentlich schon fast durch die Lehre tragen musst, und von anderen immer hörst, das hat doch keinen Sinn. Und dann kommt er am Ende glücklich zu Dir und zeigt Dir seinen Arbeitsvertrag für eine Stelle nach der Ausbildung. Das ist doch das Schönste – und es zeigt, dass man den Menschen einfach nicht aufgeben darf.

Larissa Herzog


Herzlichen Dank, Luigi
Stolze 32 Jahre hast Du dich für Brüggli eingesetzt, von Anfang an. Du hast als Brückenbauer dazu beigetragen, dass aus dem zarten Brüggli eine starke Brücke mit vielen Pfeilern werden konnte. Bei aller Grösse und Komplexität des Unternehmens: Du hast immer versucht, das Individuum wahrzunehmen. Dabei hast Du deinen Bauch sprechen lassen und Gespür gezeigt für die feinen Zwischentöne und grossen Zusammenhänge. Deine Intuition war wichtig für Brüggli – besonders auch in Zeiten, in denen Sozialunternehmen stark an raschen Erfolgen gemessen werden und nur der Preis, nicht aber der Wert zählt. Rasch wird es Dir zu einfältig, wenn Bürokratie und Standardisierung das Einzigartige zu lähmen drohen; da wirst Du emotional, betroffen, kämpferisch.

Viele Debatten hast Du geführt rund um den Einklang von agogischem Auftrag und wirtschaftlichem Leistungsstreben – eine Auseinandersetzung, die nie zu Ende ist. Viele Brückenpfeiler hast Du gestärkt, als es um die Zukunft einzelner Bereiche ging und Du dabei immer auch versucht hast, die Gesamtschau zu wahren. Und viel Zuversicht hast Du vermittelt, als Du in schwierigen Zeiten für Brüggli und seine Leute eingestanden bist, mit einer Haltung, die auch anecken konnte. Das hat Dich Geduld gekostet und dein Nervenkostüm belastet; das waren jene Momente, in denen besonders spürbar war, was Dir Brüggli bedeutet.

Du warst und bist ein Pfeiler eines Brüggli, das mit Dir gross geworden ist. Nun schreitest Du über die Brücke vom Arbeitsleben in den Ruhestand und nimmst Dir Zeit für die Familie, das Fischen und Reisen. Wir wünschen Dir viel Freude, Gesundheit und Glück.

Herzlichen Dank, Luigi, für alles, was Du für Brüggli bewegt hast. Es bleibt, es wirkt und es geht weiter.

Im Namen des gesamten Brüggli-Teams: Michael Haller

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